Schluss mit Man-müsste-Mal. Oder: Wie eine Idee wächst und gedeiht.

Kaffee mit Freunden. Irgendwann, nach dem „Wie-geht’s-dir-denn“, nach dem „Hast-du-das-gesehen“, „Hast-du-das-gehört“, nach dem Debattieren über Dinge, Zustände, Krisen (und leider auch Kriege) – landen wir da nicht alle bei dem berühmten „Warum-machen-wir-nicht?“, „Man-müsste-doch-mal…“?

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Barbara Beiertz

Heute trinke ich ein Käffchen mit einer Frau, die den Mut und das Durchhaltevermögen hatte, an genau diesem Punkt weiterzugehen und ihre Idee in die Tat umzusetzen: Jutta Nachtwey von Saatkultur*.

Ein Non-Profit-Projekt, das Anti-Rassismus, humanitäre Hilfe, Biodiversität und Design auf sehr einfache Weise miteinander verbindet: mit Bio-Saatguttütchen. Von neun essbaren Pflanzen, die ursprünglich aus verschiedenen Ländern stammen und heute aus unseren Küchen nicht mehr wegzudenken sind. Die Tütchen wurden ganz unterschiedlich und sehr hübsch designt und werden am 15. Mai auf Schloss Gottorf anlässlich des großen Ökolandmarkts verkauft. Der Erlös geht an More Than Shelters**.

Oder, wie Jutta es beschreibt:

„Die Samentüten lassen sich auch als analoge Antihass-Posts verstehen, wobei sich die Texte durch die Beigabe echter Samen aus dem Überfluss der Botschaften hervorheben. Dies sorgt für Anreize, die Tüten samt den Botschaften zu verschenken – das digitale „Teilen“ ins Analoge zu übertragen. Saatkultur* soll nicht nur positive Energien innerhalb der Gesellschaft wahrnehmbar machen und verstärken, der Besuch im Glashaus und das Heranziehen der Saat sollen auch zum Nachdenken darüber anregen, wie man selbst Hass bekämpfen kann.“

Eine Idee, die wir nicht nur inhaltlich beeindruckend finden. Aber von Anfang an…

B: Jutta, du bist Journalistin, dein Fokus liegt auf Ökologie und Design, du schreibst für die Page, für das Original-Magazin in Österreich, hast „Design Ecology“ und andere Bücher herausgebracht – und jetzt Saatkultur*. Warum?
J: Als 2015 diese ganze Geschichte in Deutschland passierte – erst diese Willkommenskultur, dann diese totale Fremdenfeindlichkeit –, hatte ich schon das Bedürfnis, mich mehr zu engagieren. Ich fand das entsetzlich und konnte mich kaum noch mit meinem Land identifizieren. Ich dachte: Das kann nicht wahr sein, du musst doch irgendwas tun.

Klar, du gehst auf die Straße und demonstrierst, denkst aber immer, du müsstest dich noch mehr engagieren. Aber du kriegst es halt in deinem Lebensalltag nicht so richtig unter. Dann gehst du vielleicht in die Messehallen und sortierst Klamotten für Geflüchtete, was ja gut ist, aber eigentlich wäre es sinnvoller, wenn ich vielleicht meine eigenen Fähigkeiten, das, was ich richtig gut kann, einbringen würde – für irgendetwas, das anderen hilft.

Zusammen ist man nützlicher.

J: Dieser Gedanke und dass andere ja vielleicht auch dieses Bedürfnis haben, aber eben nicht wissen, wie sie es umsetzen können, war der Auslöser: Ich muss etwas machen, bei dem ich die Kompetenzen verschiedener Leute bündeln kann und alle einfach weitermachen von ihrem jeweiligen Arbeitsplatz aus. Nicht irgendwo hinfahren und großartig etwas ändern müssen in ihrem Leben, sondern das machen, was sie immer machen. Und indem wir es alle zusammen tun und indem keiner damit auch nur einen Pfennig Geld verdient, entsteht etwas, was anderen nützt.

Die Saatgut-Metapher? Der Zufall spielt bei allem mit, ich hatte tatsächlich immer diese alten Saatgut-Tüten bei mir auf dem digitalen Bildschirm liegen und fand „Saatgut“ so simpel und überzeugend – da musst du nicht so wahnsinnig viel erklären. Dazu kam die Idee, auf den Rückseiten der Tütchen kurze Texte über Inklusionsprojekte unterzubringen, das ganze digital zu verlängern und so auf diese Initiativen aufmerksam zu machen.

Das hatte ich schon eine ganze Weile im Kopf, dann entstand der Kontakt zu More Than Shelters, die ja in Krisenregionen und Flüchtlingscamps aktiv sind. Ich konnte dort gut andocken, weil der Gründer Daniel Kerber ursprünglich Künstler war, sich mit weltweiter informeller Architektur in Flüchtlingscamps und Slums auseinandersetzte. Als er aber feststellte, dass seine Installationen dazu immer „nur“ von kulturinteressierten Leuten, die durch die Museen stapften, gesehen wurden, hat er stattdessen angefangen, etwas zu entwickeln, was wirklich vor Ort hilft: Zeltsysteme. Diesen Wechsel, dieses Verschieben in einen anderen Bereich, aber eigentlich dabei weitermachen, was man vorher getan hat – das ist total überzeugend. Er hatte dann natürlich auch ganz schnell Verständnis für mein Projekt.

B: Aber warum die Tütchen von Designern – und ausgerechnet diesen – gestalten lassen?
J: Naja, es gehört zu meinem Job als Designjournalistin, immer nach einer guten visuellen Lösung Ausschau zu halten. Dadurch habe ich auch unglaublich viele Kontakte zu Gestaltern, von denen ich genau wusste, sie wollen sich auch engagieren. Aber je länger ich darüber nachdachte, möglichst unterschiedliche auszuwählen, die ihrerseits aus unterschiedlichen kulturellen Kreisen stammen, desto mehr wurde mir klar, dass die Biografien der Einzelnen auch noch mal etwas zu dem Projekt beitragen können. Und so habe ich versucht, die Leute auch danach auszuwählen, dass sie selbst solche Geschichten mitbringen.

B: Wie hast du sie alle unter einen Deckel bekommen? Wie lange habt ihr daran gearbeitet?
J: Die Leute zu gewinnen, das hat nicht lange gedauert, das waren ein paar Monate. Darüber nachzudenken, was gute Geschichten sind, hat mehr Zeit gebraucht: Die persönlichen Biografien spielten bei der Auswahl eine Rolle – oder eben auch, dass sie sich mit dem Thema Rassismus in ihren Arbeiten auseinandergesetzt haben. Sie dann zu überzeugen ging ehrlich gesagt ganz schnell, weil man eben schnell versteht, dass es eine doppelte Metapher ist, vom echten und sozialen Saatgut. Corona hat uns dann zwar einen Strich durch die Rechnung gemacht, weil der Gottorfer Landmarkt 2020 und 21 nicht stattfinden konnte. Aber dieses Jahr klappt es.

B: Dann habt ihr die Website dazu aufgesetzt, um es zu verlängern. Aber wenn ich es richtig verstanden habe, ist die einzige Möglichkeit, diese Tütchen zu kaufen, jetzt am 15. Mai auf dem Gottorfer Landmarkt?’
J: Bislang ja. Dort werden wir dann erst mal sehen, wie viel verkauft wird, und ansonsten werden wir es wahrscheinlich online vertreiben.

B: Willst du das Projekt weiter fortsetzen?
J: Das Thema wird uns ja alle weiter begleiten – sowohl das ökologische als auch das Migrationsthema – und man könnte es auf jeden Fall weiterspielen. Aber das hängt tatsächlich davon ab, ob wir Partner finden, die das mitfinanzieren wollen. Wir haben bisher alle ehrenamtlich gearbeitet, das war auch gut, um alle ins Boot zu holen. Aber das kann ich nicht nochmal nebenbei machen, das müssen wir anders aufbauen.

B: Wenn du dir einen Sponsor wünschen dürftest, was müsste der können oder sollen?
J: Es darf natürlich kein Feigenblattprojekt sein oder Greenwashing. Das ist wirklich eine schwierige Frage, die ich auch für mich noch nicht abschließend geklärt habe, weil dieses Projekt ja in einem Zwischenraum existiert.
Klar wäre es für irgendein Saatgut-Unternehmen auf dem Silbertablett serviert, aber das muss es ja nicht zwingend sein. Denn es geht inhaltlich auch in den gesellschaftlichen Bereich rein – im Prinzip ist es für jedes Unternehmen ein interessantes Thema. Ich glaube, dass es ein zeitgemäßer Content ist für Unternehmen und das Potenzial hat, weiterentwickelt zu werden.

B: Es sollte aber wohl irgendwie eine ökologische Komponente haben, oder?
J: Ja, aber heutzutage müssen alle Wirtschaftsunternehmen das Feld Nachhaltigkeit bedienen – in allem was sie tun, sowohl in ihrer eigenen Produktion als auch in der Art und Weise, wie sie ihre Firmenräume einrichten und so weiter. Es kommt ja kein Unternehmen mehr am Thema Ökologie vorbei, insofern ist es auch nicht so festgelegt.

B: Das stimmt! Aber die meisten Firmen, so scheint es, wissen oft überhaupt nicht, wie sie es angehen sollen. So lange Nachhaltigkeit nicht in der Unternehmensstrategie verankert ist, glaube ich, wird das nichts. Aber wer weiß, vielleicht kriegen wir ja etwas gebacken.

Mut heißt Zuversicht.

B: Ich hatte dir ja erzählt, dass wir uns hier mit dem Thema Mut beschäftigen. Im Sinne von: selbst in die Gänge zu kommen, zu inspirieren oder auch aus einer Inspiration heraus zu arbeiten. Was ist Mut für dich?
J: Mut, ja… (sie lacht). Auf jeden Fall, denke ich, heißt das, Zwischenräume zu erkunden. Den Mut zu haben, etwas zu tun, was nicht in die eine oder andere Kategorie gehört. Ich glaube, dass gerade solche Zwischenräume unheimlich viel Potenzial in sich bergen und dass man „nur“ den Mut haben muss, diese Leerräume auch zu betreten. Und es in die Tat umzusetzen. Trotz aller Schwierigkeiten, bei denen du erst einmal gar nicht weißt, wo du anfangen sollst. Fragst du erst mal die Designer? Die würden auch sofort Ja sagen, aber die kannst du noch nicht fragen, weil du noch nicht weißt, ob du einen Ort findest, wo du es überhaupt verkaufen kannst. Also müsstest du zuerst nach einem Ort fragen. Kannst du aber nicht, weil du noch nicht weißt, ob die Designer dir zusagen würden… Und so weiter und so fort.

Saatkultur* ist ein Projekt, bei dem man an vielen verschiedenen Punkten anfangen konnte, und dann musst du einfach den Mut haben, zu sagen: So. Ich fange jetzt einfach irgendwo an und glaube daran, dass ich, wenn ich diesen Pflock in die Erde geschlagen habe, auch weitere Pflöcke in die Erde schlagen werde. Mut heißt, Zuversicht zu haben und daran zu glauben, dass es umsetzbar ist.

Verbinden verstärkt.

B: Was würdest du sagen? Braucht es eine bestimmte menschliche Eigenschaft, um mutig zu sein? Warum sind manche Menschen mutig und andere nicht?
J: Schwierige Frage, ich würde mich beispielsweise eigentlich nicht als mutigen Menschen bezeichnen. Ich habe aber jetzt etwas gefunden, bei dem ich meine ganze Zuversicht und Erfahrung einbringen kann. Aber, nee, ich bin nicht zwingend ein mutiger Mensch. Ich bin auch nicht ein total selbstbewusster Mensch, der denkt: „Wow, ich habe jede Menge geniale Ideen.“ Im Gegenteil, ich hinterfrage unglaublich viel. Aber das kann einem Menschen eben auch helfen, mutig zu sein. Indem er immer wieder hinterfragt, was er tut, festigt er umso mehr, was die Idee ist, die er dann voranbringen möchte.

Ich glaube aber auch, dass durch das Verweben unterschiedlicher Aspekte des eigenen Lebens – bei mir eben Kultur, Design, Nachhaltigkeit, Schreiben – eine Art von Stärke entstehen kann. Wobei ich auch sagen muss, dieses Projekt ist absolutes Teamwork. Du sprichst jetzt mit mir, weil diese Ursprungsidee für das doppelte Saatgut bei mir lag, aber darüber hinaus ist es das absolute Teamprojekt.

Nur durch die Zusammenarbeit von ganz vielen verschiedenen Leuten und Disziplinen hat es sich auch immer weiterentwickelt. Zum Beispiel habe ich einen befreundeten Biologen angesprochen, damit er sich um diese Pflanzentexte kümmert. Und jetzt steht da nicht einfach nur von mir zusammengegoogeltes Pflanzengewäsch, sondern ein Experte beschreibt die Herkunft der Pflanzen. Es verstärkt Ideen, wenn man dann eben die richtigen Kompetenzen zusammenbindet.

Immer am Tütchen lang.

B: Was glaubst du oder wünschst du dir, dass Saatkultur* bewirkt?
J: Es ermöglicht durch die Tütchen, das Design, den Inhalt und die Geschichten total unterschiedliche Zugänge. Damit kannst du ganz verschiedene Menschen erreichen, zum Beispiel auch Leute, die einfach nur ihre Tomaten züchten und fertig. Sie interessieren sich für den Rest gar nicht. Die drehen die Tüte um, lesen da nur ein paar Sätze, und im besten Fall denken sie sich: „Okay, das schaue ich mir jetzt noch mal genauer an“. Dann können sie auf die Website gehen und kommen auf diese Themen, die sie überhaupt nicht erwartet haben.

Es ist leicht zu verstehen, dass Pflanzen sich über die Jahrtausende hinweg überall verbreitet haben – kein Mensch würde auf die Idee kommen und sagen: „Du, Tomate, bleib in Mexico, du hast hier nichts zu suchen.“ Sondern die sind halt im 16. Jahrhundert aus Mexico nach Europa gekommen und hier nicht mehr wegzudenken. Das kann man sehr leicht begreifen, und dann fällt es einem vielleicht auch leichter, diese Analogie zu ziehen.

Auch die Projekte, die wir auf den Saatguttütchen beschreiben, bieten Andockmöglichkeiten für Leute mit unterschiedlichen Interessen: Design, Handwerk, Kunst, Tanz, Musik – Bereichen, in denen Kreativität immer eine Rolle spielt. Kreativität ist ein verbindendes Element zwischen Kulturen.

Wir hoffen, dass sich paar Leute mal anders mit dem Thema auseinandersetzen. Und für diejenigen, die sich ohnehin für das Thema interessieren, ist es ja eigentlich ein langer „Artikel zum Thema Integrationsprojekte“, so kannst du verschiedene Ansätze kennenlernen.

Du kannst dich am Tütchen immer längshangeln, weil du darüber auf alle drei Ebenen gelangst. Entweder du kümmerst dich nur um die Pflanze oder um den Designer, kannst die Biografie nachlesen, oder eben um die Integrationsprojekte. Die Saatguttüte ist immer das verbindende Element dieser drei Ebenen.

Und was mir sehr wichtig war: Das sehr offene Design-Konzept – die Gestalter hatten bis auf das Sternchen keine Vorgaben – spiegelt auch Vielfalt wider. Ich wollte nicht als Europäerin vorgeben: So Leute, ihr müsst das jetzt alle so machen, wie ich sage, sondern es ist eben einfach von vornherein auf Diversität aufgesetzt.

B: Eigentlich müsste man doch eine Galerie dafür gewinnen…
J: Das war das, was ich vorhin meinte: Das Naheliegende ist natürlich das Saatgut, aber es ist eben auch das Design selbst – natürlich wäre das auch für eine Galerie interessant. Es gibt von verschiedenen Seiten die Möglichkeit, sich da anzunähern. Übrigens sind auch die Designer-Biografien beeindruckend. Ich wusste teilweise nicht, wie genial deren Geschichten in dieses Konzept passen.

Zum Beispiel Mario Lombardo: Er ist in Argentinien geboren und mit seinen Eltern vor der Militärdiktatur nach Deutschland geflohen. Dann, weil irgendwelche Vorfahren Italiener waren, konnten sie die italienische Staatsbürgerschaft annehmen. Aufgewachsen ist er aber in Deutschland immer mit dem Gefühl, das er eigentlich nicht weiß, wo er hingehört. Er war dann bei Spex, als Art Director, aber die Frage nach Heimat hat ihn immer begleitet. Als er zum ersten Mal nach Argentinien zurückgefahren ist, kam er an (das erzählt er auch auf der Saatkultur*-Seite), und obwohl es am Flughafen nach Kerosin roch, hat er plötzlich irgendwas wahrgenommen und wusste: Das ist der totale Heimatduft. Das hat in ihm dann so viel bewirkt, dass er inzwischen ein eigenes kleines Parfum-Label gegründet hat. Weil er gemerkt hat, wie stark man über Düfte Emotionen von Menschen triggern kann.

B: Was definitiv stimmt: Für uns bedeutet Kaffeeduft Zuhause. Und angeblich gibt es sogar Immobilienmakler, die Wohnungen mit Kaffee beduften, um sie attraktiver zu machen.
J: Ja, man verbindet es direkt mit Entspannung.

B: Oder auch mit solchen inspirierenden Gesprächen wie diesem mit dir.
Ganz herzlichen Dank dafür.

**„MTS hat seit 2012 in vielfältigen Projekten mit UN-Organisationen und internationalen Hilfsorganisationen Innovationen im humanitären Kontext aufgebaut und verstetigt. MORE THAN SHELTERS war lange Zeit der einzige Arbeitsbereich von MTS und damit prägend für die heutige nationale und internationale Arbeit.“
(www.mts-socialdesign.com/more-than-shelters)