„Das Leben ist zu kurz, um es mit A… zu verbringen.“

Neulich in Berlin. Ich habe das große Vergnügen, mit Stephan Szasz ein Käffchen zu trinken und über „Respekt“ zu sprechen. Ein Thema, das der Schauspieler (Theater, Film, TV – „Tatort“ & Co.), Trainer, Coach und Vater von zwei Teenagern in seinen unterschiedlichsten Funktionen auf sehr beeindruckende Weise interpretiert.

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Barbara Beiertz

foto: privat

Eine Freundin hatte uns miteinander bekannt gemacht, mich grinsend gewarnt, dass er Mario Adorf aus dem Gesicht geschnitten wäre (ist er) und blitzeblaue Augen hätte (hat er). Und so sitze ich in einer Hotellobby in Charlottenburg – sehr hip und kosmopolitisch – und bin NICHT aufgeregt. Was mich ein bisschen wundert. Früher hätte ich vor solch einer Begegnung sehr großen Respekt (!) – um nicht zu sagen: Manschetten – gehabt. Aber je länger wir uns im Team über eben dieses Thema unterhalten, desto wohler fühle ich mich damit. Es ist spannend, wie viel Aktualität und Bedeutung dieser „ach-so-olle, konservative“ Begriff hat.

Barbara: Was bedeutet Respekt für dich?
Stephan: Für mich bedeutet das erst mal, den anderen so sein zu lassen, wie er ist. Und zu gucken, was haben Menschen eigentlich gemacht in ihrem Leben. Also auch schon Respekt vor Persönlichkeiten und vor deren Arbeit. Aber für mich ist einer der wichtigsten Punkte, dass man einen anderen Menschen, ein anderes Lebewesen – auch Pflanzen – erst mal respektiert. Ich bin in Nordhessen großgeworden, in einer Kleinstadt. Mein Vater war Apotheker, meine Mutter Krankenschwester, und wir waren fünf Kinder. Demut und Respekt anderen Menschen gegenüber, anderen Lebewesen gegenüber, der Umwelt gegenüber, das war etwas, was mich sehr geprägt hat.

B: Sind wir als Gesellschaft respektvoll?
S: Ich finde, dass sich unsere Gesellschaft durch die Corona-Zeit verwandelt hat. Das war für mich eine Art Brandbeschleuniger, in der es nur noch „du bist für mich oder du bist gegen mich“ gibt. Man kann ja unterschiedlicher Meinung sein, aber man muss doch miteinander kommunizieren. Während Corona hat sich das extrem in eine bestimmte Richtung entwickelt. Für mich war auch Donald Trump ein großer Wendepunkt, weltpolitisch, weil der zum ersten Mal – in einer der ganz großen Nationen, die sich immer auf die Fahne schreibt, dass sie das Mutterland der Demokratie ist – sagt: Ich betrüge, ich bescheiße, ich gehe mit Frauen schrecklich um, ich bin Rassist, ich kann lügen und ich habe damit Erfolg. Das war für viele Menschen glaube ich, ein Vorbild, leider. Und das ist weit, weit, weit weg von Respekt.

B: Du bist Regisseur einerseits, Schauspieler andererseits. Und Coach und Dozent und Papa bist du auch. Respekt ist ja auch eine Frage von Funktion und Hierarchie. Wenn du als Schauspieler agierst, bist du eigentlich „weisungsabhängig“ vom Regisseur und damit gar kein Künstler – so sagt zumindest die Künstlersozialkasse. Was ich übrigens sehr schräg finde…
S: Tatsächlich gelten wir Schauspieler, wenn man sich das Steuergesetz anschaut, nicht als Künstler. Man arbeitet immer auf Lohnsteuerkarte und in der Vorstellung gibt es jemanden, der dir sagt, was du machen musst, und das tust du dann. Also bist du eigentlich „nur“ ein ausführendes Organ. Auch wenn das natürlich komplett an der Praxis des Berufs vorbeigeht. Mit Respekt vor unserer Arbeit hat das nichts zu tun. Das hast du auch in den Corona-Maßnahmen gesehen. Die Theater- und Schauspielhäuser wurden mit Spielhallen und dem Prostitutionsgewerbe auf eine Stufe gestellt.

„Jeder Mensch, jede Frau, jeder Mann, jedes Lebewesen ist einzigartig.“

B: Empfindest du Respekt als Schauspieler anders als als Regisseur oder Dozent? Ist das funktionsabhängig?
S: Das hat sich bei mir gewandelt, ich habe mich natürlich auch weiterentwickelt im Laufe der 20–25 Jahre. Ich muss ein bisschen ausholen: Ich bin kein Mensch, der gerne auf die Straße geht zu Demonstrationen, früher habe ich das sehr oft getan, jetzt nicht mehr – also: Was kann ich tun?

Ich kann versuchen, Menschen, mit denen ich arbeite, eine zugewandtere Art des Miteinanders zu vermitteln, und im kleinen Bereich versuchen, etwas besser zu machen. Wenn ich im Regie-Bereich arbeite, versuche ich das genauso. Wenn ich mit jemandem arbeite, der scheinbar in der Hierarchie über mir steht, versuche ich, ihm auf Augenhöhe zu begegnen. Ich werde mich bestimmt nicht unterordnen oder sagen: „Du bist viel spannender oder toller als ich.“

Ich finde, jeder Mensch, jede Frau, jeder Mann, jedes Lebewesen ist einzigartig. Es gibt uns nur einmal auf dieser Welt und deshalb sollten wir respektvoll mit den anderen umzugehen. Ich würde niemals jemandem nach dem Mund reden, weil es mir vielleicht helfen könnte. Ich versuche, meine Meinung zu vertreten und die so respektvoll wie möglich darzubringen. Und wenn ich merke, dass jemand mir nicht respektvoll gegenübertritt, dann probiere ich erst mal, ihn davon zu überzeugen, dass es doch einen anderen Weg gibt.

Vorhin hatte ich so eine Situation mit einem Autofahrer. Ich bin ihm mit meiner Vespa wohl nicht schnell genug gefahren, obwohl ich mit 80 km/h auf der Stadtautobahn unterwegs war. Er hat mich echt fast von dieser Autobahn runtergedrückt. Ich habe dann angehalten, er hat mich sofort angebrüllt, und ich hatte erst auch den Impuls, zurückzubrüllen, und dann dachte ich: „Nein, mach das anders.“ Ich habe ihn gnadenlos gesiezt. „Schauen Sie mal“, habe ich gesagt, „Sie fahren einen dicken Porsche, ich einen kleinen Vespa-Roller. Sie könnten mich schwer verletzten und bei Ihnen wäre noch nicht einmal ein Kratzer zu sehen. Macht Ihnen das Spaß? Finden Sie das schön? Was ist denn der Grund? Hinter der nächsten Ampel stehen Sie wieder genauso neben mir. Lassen Sie uns doch ein bisschen entspannter bleiben.“ Ich bin ganz ruhig geblieben, auch wenn es mir schwergefallen ist. Er hat erst rumgepöbelt und gehofft, dass ich auch explodiere. Bin ich aber nicht. Nach einer Zeit hat er dann gesagt: „Ja, stimmt, Sie haben recht. Gute Fahrt!“ Und ist weitergefahren. Das sind so kleine Momente, in denen ich hoffe, dass man im Alltagsleben was vermitteln kann, und wenn jeder ein bisschen was dafür tut, dann kann man innerhalb einer Gesellschaft schon eine Menge machen.

B: Wie machst du das mit deinen Kindern? Wie alt sind die?
S: Die sind 16 und 18…

B: Eine Zeit, wo es ordentlich Reibungen gibt…?
S: Ja, genau! Das fand ich auch während Corona so schwierig. Sie waren da 14 und 16, eine Phase, in der eigentlich die Abnabelung von den Eltern extrem wichtig ist. Pubertät ist für mich eine der spannendsten Lebensphasen. Gleichzeitig, wenn du da drinsteckst als Eltern, musst du echt manchmal tief durchatmen. Du machst die Tür morgens auf und weißt schon, dass sich was anbahnt. Jesper Juul, der leider verstorbene Familientherapeut, hat mal was Schönes gesagt: Man müsste Jugendlichen zwischen 14 und 17 ein Schild vor den Kopf kleben, auf dem steht „wegen Umbau geschlossen“. Ich habe im Alltagsleben mit meinen Kindern nicht immer realisiert, was von meinen Werten bei ihnen angekommen ist. Wenn ich sie aber mit anderen Menschen sehe, dann denke ich: „Guck mal, es hat doch das eine oder andere gefruchtet.“ Ich versuche, ihnen einen respektvollen Umgang mit den Menschen zu vermitteln.

B: Kann man Respekt lernen? Wenn Erwachsene respektlos sind, ist das dann ein Versäumnis in ihrer Kindheit?
S: Naja, ich denke, das beste Beispiel ist jetzt im Moment der Iran. Wenn man in einer Gesellschaft kaum Respekt Frauen gegenüber vorlebt. Wenn Prediger sagen, Frauen sind gleichbedeutend mit Schafen, das sind keine Menschen, sondern Lebewesen, die Gott oder Allah nur dazu gebraucht hat, damit wir uns fortpflanzen können. Oder nimm unsere Historie zwischen 33 und 45 – sie zeigt genau dasselbe: Wenn ich Menschen diese Form von Respektlosigkeit permanent vorlebe, sieht man auch, wie sich das massenhaft in der Bevölkerung fortsetzt. Und darum finde ich es so unfassbar beeindruckend und mutig, was im Moment im Iran passiert. Wir hier reagieren viel zu wenig und viel zu zaghaft darauf.

„Den anderen sehen – das ist Respekt.“

B: Was ist für dich respektlos im ganz normalen Alltag?
S: Respektlos finde ich, wenn man sich nicht zuhört, wenn man sich gegenseitig nicht wahrnimmt. Mein Vater hat mal was gesagt, da hatte ich mich zum vierten oder fünften Mal im Lauf meines Lebens von einer Partnerin getrennt, es waren immer so Anderthalb/Zwei-Jahres-Beziehungen – meine Eltern dagegen waren fast 50 Jahre lang verheiratet. Also habe ich meinen Vater gefragt: Wie schaffst du es eigentlich, so lange mit ein und derselben Person zusammenzuleben? Er hat mich angeguckt und geantwortet: „Wieso? Sie ist doch jeden Tag neu.“ Das bedeutet für mich Respekt, den anderen zu sehen.

Nimm Menschen, die vielleicht durch ein soziales Raster gefallen sind und jetzt auf der Straße leben, aus welchen Gründen auch immer – das Mindeste, was ich tun kann, und das kostet keinen Cent, ist, die Menschen anzulächeln und „Hallo“ zu sagen oder „Guten Tag“ zu wünschen. Das ist für mich ein Minimum an Respekt. Aber wenn ich sehe, wie die Leute reihenweise vorbeigehen, dann ist das eine Sache, die ich nicht verstehe. Ich glaube, es war Sartre oder Camus, der gesagt hat: Du kannst einem Menschen alles nehmen, nur nicht seine Würde, dann hört er auf, ein Mensch zu sein.

Respekt heißt für mich, einem Menschen seine Menschenwürde zu lassen. Es kostet mich nichts, jeden Menschen freundlich zu begrüßen, zu sehen – vor allen Dingen überhaupt erst mal zu sehen. Wie viele Leute kennen noch nicht einmal die Augenfarbe ihrer Lebenspartner, so viele kennen das nicht, wissen das nicht.

B: Ist Respektlosigkeit auch eine Frage von Macht?
S: Vielleicht! Ja… Macht hat was Verführerisches. Deswegen mag ich den Herrn der Ringe auch: Wer hat die Macht? Wer hat den Ring? Wer lässt sich davon verführen? Ich mag Menschen, die in sehr einflussreichen Positionen sitzen und Macht nicht missbrauchen, sondern respektvoll damit umgehen. Manche Menschen glauben aber, sich selbst über andere stellen zu können.

B: Warum…?
S: Komplette Selbstüberschätzung. Mein Vater war ein extrem gebildeter Mensch, hat zwar nicht viel gelesen in seinem Leben, wusste aber wahnsinnig viel. Ich habe ihn mal gefragt, wie er das macht. Er meinte: „Jeder Mensch ist mindestens in einem Gebiet Experte. Hör ihm zu, stell Fragen, interessier dich für das, was der andere Mensch kann, versuch herauszufinden, was sein Spezialgebiet ist, hör zu – und du kannst dir jahrelanges Studieren sparen.

„Bloß keine Fehler machen.“

B: Ein kluger Mann. Aber zurück zur „kompletten Selbstüberschätzung“. Woher kommt die? Ist das auch eine Frage von nicht vorhandener Fehlerkultur?
S: Absolut! Das ist ein unglaublich spannendes Thema, damit beschäftige ich mich schon seit längerer Zeit. Früher, als ich selbst auf der Schule war, ging es darum, zu kapieren: Wer bin ich eigentlich? Was macht mich eigentlich aus? – Was übrigens auch mit Respekt zu tun hat. Also erst mal erkennen: Was sind eigentlich meine Stärken? Nicht meine Schwächen. Wir haben unheimlich viele Fehler gemacht – und gerade die haben uns weitergebracht.

Heute erlebe ich bei meiner Arbeit als Dozent an Schauspielschulen oft, dass es viele Menschen gibt, die stehen am Startblock, haben ein ganz klares Ziel vor Augen. Aber sie wollen überhaupt nicht durch dieses Meer schwimmen, um da hinzugelangen. Sie wollen gleich ankommen und auf gar keinen Fall Fehler machen, auf gar keinen Fall irgendwas falsch machen. Ich habe mich gefragt: Woran liegt das? Ich glaube, dass für die jüngeren Generationen durch die ganzen neuen Geräte, sozialen Netzwerke und Medien, die Möglichkeit, sich lächerlich zu machen, ganz groß ist. Du machst irgendwas und kriegst sofort ein Daumen-Hoch oder ein Daumen-Runter. Du bist sofort im Vergleich und in Relation mit Hunderttausenden von Menschen auf der ganzen Welt. Du stellst ein Foto von dir rein, unbearbeitet, Reaktion: hm… geht so. Dann bearbeitest du die Fotos von dir und kriegst plötzlich 20.000 Likes. Was für ein Signal bekommt man dann da? Ich bin nicht wichtig? Nicht schön genug? Ich muss mich verändern, um geliked zu werden von irgendwem? Das finde ich so schlimm. Und das ist eben auch Respektlosigkeit. Natürlich ist es auch die Anonymität der sozialen Netzwerke, die dazu führt, dass man in einer unfassbaren Respektlosigkeit miteinander kommuniziert.

Meinen privaten Bereich halte ich aus dem Netz komplett raus, beruflich nutze ich es im dezenten Rahmen. Aber ich würde niemals respektlos auf etwas reagieren, was jemand gepostet hat. Ich habe hin und wieder denjenigen angerufen und gesagt: „Pass auf, ich muss mit dir reden, weil ich das so nicht stehen lassen kann, was du da geschrieben hast. Ich möchte mit dir gern darüber reden, ich möchte das verstehen und möchte dir auch meine Haltung dazu klarmachen, aber eben nicht über das Netz.“ Weil es oft so viele Missverständnisse gibt, auch die Art, WIE man etwas sagt, fällt ja komplett weg.

B: Darum wollte ich gerne mit dir persönlich reden. Vor wem hast du Respekt?
S: (lacht): Seitdem ich angefangen habe mit Schauspiel, wurde gesagt: „Du hast so viel Ähnlichkeit mit Mario Adorf.“ Viele seiner Arbeiten mochte und mag ich gerne, ich habe großen Respekt vor seinem Lebenswerk und vor ihm auch als Person. Irgendwann ergab es sich und ich sollte in einer Filmepisode tatsächlichen seinen Sohn spielen. Ich hatte so viel Respekt vor ihm, dass ich den Regisseur gebeten habe, Mario Adorf vorher treffen zu können. Ich musste den vorher sehen. Wir haben dann zu dritt einen wunderschönen, berührenden Abend verbracht, wobei wir keine Sekunde über das geredet haben, was wir eigentlich besprechen wollten.

Als ich in England gedreht habe mit sehr erfolgreichen, berühmten englischen Schauspielern, da fand ich es toll, wie man dort miteinander umging. Es spielte überhaupt keine Rolle, ob das die Frau von Jeremy Irons ist und die BAFTA*-Gewinnerin oder Oscar-Nominierte, das war vollkommen egal. Du triffst aufeinander und begegnest dir und arbeitest miteinander.

B: Was flößt dir denn dann Respekt ein?
S: Bei uns in dem Dorf, indem ich aufgewachsen bin, da gibt es ein altes Ehepaar, die sind fast 90, haben ganz wenig Geld und sind so lebensfrohe Menschen – das ist etwas, vor dem ich unglaublich viel Respekt habe.

Aber ich habe keinen Respekt vor Menschen, die sich wie Arschlöcher verhalten, mit denen gebe ich mich nicht mehr ab. Am Anfang bei der Geburt hast du nur dieses eine Ticket für das Leben bekommen und das ist mir dann einfach viel zu kurz, um es mit Arschlöchern zu verbringen.

B: Das ist ein sehr treffendes Schlusswort, lieber Stephan. Ganz herzlichen Dank dafür und für deine Zeit.

* British Academy Film Award