Einer von 8 Milliarden.

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Barbara Beiertz

foto: kristin oldenburg, pretty-cool.de

Am Telefon vor einigen Wochen war Christof Klemmer noch recht skeptisch, was „ausgerechnet er“ denn zu diesem Thema sagen solle. Aber dann stellt sich heraus: Er hat eine ganze Menge zu erzählen (auch wenn er sich ein bisschen um den Begriff „Respekt“ drückt). 

Barbara: Herr Klemmer, sie haben 1979 gemeinsam mit ihrer Frau Sophienlust übernommen, als Nicht-Bauerssohn, und daraus einen florierenden Demeter-Hof mit allem Drum und Dran inklusive sozialem Projekt geschaffen. Und dann das Ganze nach mehr als 35 Jahren an ihre Nachfolger, die nicht ihre Kinder sind, übergeben. Würden Sie das alles noch einmal so machen?
Christof Klemmer: Ja, auf jeden Fall! Ich würde das total gerne noch mal machen. Ich bin nicht traurig, dass ich alt bin, das Alter hat ja auch seine guten Seiten. Und ich bin sehr überrascht, dass ich sehr viel um Hilfe und Beratung gebeten werde. Da habe ich genug zu tun und das ist sehr schön. Aber: Ja. Ich würde es auf jeden Fall noch mal machen. Es ist eine unheimlich schöne Arbeit, die ich für total sinnvoll halte. Man ist natürlich sehr eingebunden, hat einen langen Tag, was aber nicht heißt, dass man zwölf Stunden arbeitet, sondern vielleicht acht Stunden. Aber man muss präsent sein. Es kann sein, dass die Tiere was haben, es kann sein, dass eine Drainage verstopft ist, und so etwas. Das Schöne daran ist, du merkt sehr genau, ob du richtig gedacht hast. Ob du deine Gedanken in die Handlung umsetzt. Als Bauer siehst du sofort, ob du richtig denkst oder handelst.

B: Weil es funktioniert? Oder eben nicht??
CK: Ja, das siehst du ja am Wachstum. Wächst es, entwickelt sich der Boden, entwickelt sich die Bodenfruchtbarkeit. Wächst es nicht, dann nicht. Es gibt eigentlich keinen anderen Beruf, bei dem das so klar und deutlich ist. Das korrigiert einen sehr in seinem Denken und seinem Empfinden, man muss wirklich straight sein.

B: Sie haben mir erzählt, dass sie ihr Handwerk von der Pike auf gelernt haben. Die biodynamische Landwirtschaft und die konventionelle aber auch. Um auf unser Thema zu kommen: Was ist der „philosophische“ Unterschied zwischen beiden Methoden? Die Haltung zur Natur?
CK: Die Anthroposophie geht davon aus, dass es eine geistige Welt gibt, die außerhalb von uns ist und gleichzeitig aber in uns. Es gibt einen Satz von Rudolf Steiner:

„Anthroposophie ist ein Erkenntnisweg, der das Geistige im Menschenwesen zum Geistigen im Weltenall führen möchte.“

Das ist natürlich eine ganz spezielle Sichtweise, aber für mich sehr befriedigend. Diese Auseinandersetzung mit der Natur, dass man sich selbst zurücknimmt und erkennt: Was will die Natur, was ist da eigentlich Sache? Wie kannst du darauf so reagieren, dass du sie bestärkst in ihrem Bestehen? Und vielleicht auch, dass man den Genius Loci erkennt, also die Idee des Ortes. Man arbeitet daran, dass es besser wird. Das sind die Grundgedanken des biologisch-dynamischen Landbaus. Mich hat das total fasziniert und das tut es auch noch heute. Ich bemühe mich nach wie vor darum, das alles zu verstehen.

Wenn man die konventionelle Landwirtschaft sieht, dann geht es dort immer um ein System, in das als Input Mineraldünger oder Kraftfutter hineingegeben wird. Das geht als Düngemist auf den Boden oder eben nur als Mineraldünger, wenn man keine Tiere hat. Dann hat man einen Output und der wird verkauft. Nährstoffe gehen raus. Und dann muss man wieder mit Mineraldünger nachdüngen.

Im Biodynamischen ist es ganz anders, da versucht man den Kreislauf Boden-Pflanze-Tier zu schließen. Hier sind Tiere von großer Bedeutung. Vor allem die Rinder, weil sie bei der Verdauung besondere Qualitäten zeigen, die eine positive Entwicklung der Bodenfruchtbarkeit stark fördern, weil sie mit dem Mist dem Boden wieder Nährstoffe zurückgeben. Das ist inzwischen auch alles wissenschaftlich bewiesen.

Normalerweise würde man sagen, der Boden degeneriert, wenn man keinen Dünger nachstreut. Aber da kommen auf einmal ganz andere Gesetzmäßigkeiten ins Spiel: Der Wandel von einem chemisch dominierten Bodenprozess in biologisch dominierte Bodenprozesse. Natürlich erntet man nicht das, was die anderen Betriebe ernten. Wenn die 100 Doppelzentner haben, dann ernten wir 50, aber eben sehr viel energiesparender. Als wir angefangen haben, hat die Uni Kiel, der Professor Heidemann, untersucht, wie die Entwicklung von Kleintieren, also von Laufkäfern und Spinnen, mit der Umstellung einhergeht. Das ging rasant hoch, wir hatten nachher die zehnfache Artenvielfalt und Menge im Vergleich zum Nachbarn, der ein konventionelles Verfahren bevorzugt. Das ist dieser geschlossene Betriebskreislauf: Der Boden regeneriert sich, dann kommen Kleintiere, dann die Vögel, Mäuse und so weiter. Und dann hast du auch wieder einen Antagonismus in Bezug auf Nützlinge und Schädlinge. Diesen Kreislauf bringt man mit homöopathisch fein dosierten Präparaten in Gang. Als ich noch in der Lehre war, haben viele Leute darüber gelacht.

Heute hat man in Langzeitversuchen (dem sogenannten DOK-Versuch) festgestellt, dass das biodynamische System mit Kompost und dem Einsatz der biodynamischen Präparate den belebtesten Boden als Folge dieser Art der Bewirtschaftung mit sich bringt.

Bi di sütt dat alns so schier ut.

B: Was sagen denn ihre „konventionellen“ Nachbarn dazu?
CK: Zuerst waren sie natürlich sehr kritisch, obwohl sie auch sehr nett waren. Nur ganz am Anfang lief es nicht gut, weil unser Nachbar Axel Springer war und der Verein, der den Hof hier gekauft hat, „Volkspädagogik, Landwirtschaftslehre und Sozialarbeit“ heißt. Daraus wurde dann die „Volksrepublik“ und wir wurden vom Verfassungsschutz überwacht. Irgendwann standen sie an der Straße und ich habe gesagt: „Kommt mal rein, wir laden euch zum Essen ein und ich erzähle euch alles. Wir haben nichts zu verstecken.“ Und dann war das auch vorbei (er lacht).

Die direkten Nachbarn, die Bauern, sind zwar nett, aber skeptisch. Einer hier im Ort, der kam nach 30 Jahren zu mir und sagte auf Plattdeutsch: „Weetst du wat, dat will ik di mal seggen, bi di sütt dat alns so schier ut.“ (Weißt du was, das will ich dir mal sagen, bei dir sieht das alles so schön aus.) Das hätte er auch mal 20 Jahre eher sagen können (er schmunzelt).

B: Sie haben ihren Weg vorgelebt, ohne zu missionieren – ihr Nachbar hat gesehen, dass es funktioniert. Ist das der Weg zu Respekt?
CK: Ich glaube, was wirklich wichtig ist, ist, dass man unterschiedlicher Meinung sein kann, unterschiedliche Dinge machen kann und trotzdem miteinander einen Umgang pflegt. Dass man differenzieren kann. Unterschiedliche Ansichten und Haltungen müssen ja nicht zu Streit führen. Es ist ja eigentlich eine Bereicherung, den anderen in seinem Anderssein zu sehen. Wenn man sagt: „Okay, du bist ein Mensch wie wir alle und du hast ein Ding, das du machst, und das mag vielleicht nicht meine Meinung sein, aber ich erkenne dich als Person, als Mensch, als Individuum an.“ Vielleicht ist Respekt in diesem Fall kein schlechter Begriff.

B: Und wie erreicht man das?
CK: Man kann es nicht erzwingen. Ich glaube, ein Grundsatz aus der Anthroposophie trifft es hier auch. So wie Steiner sagt: Es kommt drauf an, den anderen Menschen zu verstehen in seiner Art, in seiner Eigenart, seiner Wesenheit. Dafür muss man sich aber innerlich frei machen, also nicht, wenn ich Menschen begegne, denken: „Oh, der sieht so aus und der ist blöd und der hat mir das angetan.“ Sondern innerlich unbefangen sein. Und so einen Raum schaffen für Menschen, aber auch für Natur, das ist nämlich das gleiche. Dann toleriert man den anderen nicht nur, sondern erkennt ihn an. Anerkennung ist mehr als Toleranz – und das ist, glaube ich, das Geheimnis: Du musst dich bemühen, den anderen in seiner Wesenheit, seiner Art zu erfassen und nicht mit deiner Meinung.

B: Aber es gibt sehr viele Meinungen momentan in der gesellschaftlichen Debatte.
CK: Ja leider. Alles ist sofort Meinung. Keine Gelassenheit, sich in Ruhe die Dinge anzuschauen und sich auch mal zurückzunehmen. Kucken sie sich mal unsere Gesellschaft an, unsere Probleme, die wir haben. Die Ökokrise – das größte Problem daran ist, dass wir mit vorgefassten Gedanken und Meinungen in die Welt hineingehen: Wir müssen Wachstum haben, wir müssen so und so sein. Wir denken eben nicht: „Was ist eigentlich wirklich angesagt? Welche Wirkungen haben denn meinen Handlungen?“ Da sind nur vorgefasste Meinungen – und die werden nie zur Realität führen, die werden auch nie zu Frieden führen. Das gleiche gilt für die spirituelle Ebene. Wenn du immer nur vorgefasst mit irgendwelchen Dingen umgehst, dann wirst du auch spirituell oder – wie soll ich sagen, mental – nie zum Glück kommen. Eigentlich sind wir mental in einer großen Krise, ökologisch, wirtschaftlich, sozial. Das liegt daran, dass wir so befangen sind.

Die Anthroposophie bemüht sich darum, den Menschen innerlich freizumachen und durch unbefangenes Denken und Erfassen der Tatsachen zu klären, was in einer bestimmten Situation angesagt und richtig ist. Das betrifft auch die Gedanken über das eigene Denken und Handeln.

B: Wie lernt man das?
CK: Üben! Ich habe mich jahrelang damit beschäftigt. Wir haben hier in einer großen Gemeinschaft gelebt, zu unserer Zeit waren das 35 Menschen. Und ja, klar ist es ärgerlich, wenn irgendwas nicht klappt. Dann gehst du nach Hause und denkst drüber nach. War das eigentlich richtig? War das gut? War das nicht gut? Du hast eigentlich nicht das, was du sein kannst oder was du sein willst, gemacht, sondern du bist explodiert, weil du genervt warst, weil es um Geld ging. Mit der Zeit bekommt man das aber hin – ein sehr sehr langer Prozess. Aber wenn sich viele Menschen darum bemühen, dann klappt das, bei aller Unterschiedlichkeit.

Hochpotenter Materialismus.

B: Warum ist dieser Zustand, den wir jetzt in unserer Gesellschaft haben, so eskaliert?
CK: Es gibt, glaube ich, mehrere Gründe. Der eine ist, dass wir einen hochpotenten Materialismus haben. Wir haben nichts außer Materie, außer reduktionistischem Denken, außer Vorteilsnahme, außer Geld, Macht, Karriere. Das ist eine entscheidende Sache. Das Zweite sind, glaube ich, die elektronischen Medien. Die Menschen werden total damit bedonnert und beballert. Ich weiß, ich benutze sie auch selbst, ich habe auch einen Computer, ich habe zwar kein Smartphone, aber meine Frau, und das benutze ich mit. Ich sehe die Vorteile ganz genau. Aber man kann dem auch erliegen – Facebook hier und Facebook da, Shitstorm auf irgendwelche Leute – ich glaube, dass das auch dazu beiträgt.

B: Ich denke, es ist so eine große Anonymität entstanden in der Kommunikation untereinander.
CK: Sehen sie, ich war neulich im Hotel. Beim Frühstück sitzt uns ein Paar gegenüber, am Nachbartisch. Also wir waren zu dritt und haben geredet – und die guckten beide auf ihr Smartphone und haben kein Wort miteinander gesprochen. Das ist eigentlich ganz traurig. Ich bin ja kein Nostalgiker, aber wenn sie mal daran denken, was die Menschen früher gemacht haben, die haben viel mehr geredet, die haben mehr gefeiert, die haben gesungen zusammen. Ich will gar nicht sagen, dass das eine heile Welt war, das war auch schwierig, aber die haben viel mehr direkt kommuniziert als heute.

Ein bisschen Gelassenheit.

B: Wie haben Sie es dann geschafft, die „richtigen“ Nachfolger zu finden? Ist es nicht schwer, wenn man als Unternehmen – und das ist der Hof ja – mit einem solchen „spirituellen“ Ansatz gearbeitet hat, diese Haltung an eine ganz andere Generation zu übergeben oder sie so zu transformieren, dass man seine Seele nicht verkauft?
CK: Ja, das ist sehr schwer, das ist es bei uns auch! Ein ganz schwieriger Prozess, aber man muss auch ein bisschen Gelassenheit zeigen.

Nachdem wir den Hof abgegeben hatten, habe ich ja noch sieben Jahre als Berater für Demeter gearbeitet und da natürlich viel mit jungen Leuten zu tun gehabt. Man sieht, es ist ein anderer Ansatz da, aber wenn man mit ihnen spricht und hört, was sie eigentlich sagen, dann merkt man, dass auch sie relativ spirituell sind. Aber auf einer anderen Ebene als wir.

Ich habe neulich mal an einem Arbeitskreis teilgenommen, es ging um Landwirtschaft und Meditation. Der erste Beitrag beschäftigte sich mit Beten und Arbeiten. Das ist ja nicht sehr modern, und ich war gespannt, was da wohl kommt. Die jungen Leute, die da waren, auch vor allem junge Frauen, die hatten gar kein Problem mit Beten und Arbeiten. Ich war total überrascht, als die erklärten, was sie unter Beten verstehen – Meditation – und von ihren Erlebnissen dabei gesprochen haben. Alles junge Leute zwischen 20 und 30, die haben eine Spiritualität. Sie ist nur anders als bei uns, nicht so intellektuell. Diese Macher-Mentalität, die wir hatten, das ist nicht so ihr Ding, eher: „Wir wollen ein bisschen weniger arbeiten, wir wollen lieber inhaltlich mehr tun und uns ist nicht so wichtig, dass das ganz groß wird und so…“

Bei den jungen Bauern hier halte ich mich eigentlich total zurück, aber manchmal rutscht mir dann doch was raus und ich sage, man kann das ja auch ein bisschen anders strukturieren oder ein bisschen mehr arbeiten. Dann kriege ich immer eins drauf: „Nee, wir wollen nicht so viel arbeiten, das wollen wir nicht so wie ihr.“ Aber auf der anderen Seite, wenn ich mir angucke, wie sie jetzt dabei sind – das machen sie schon mit viel Einsatz.

Sie haben ein anderes Verhältnis dazu, man könnte schon denken, dass sie faul sind, aber eigentlich sind sie das nicht. Wenn sie erst mal Lunte gerochen haben, dann geht das schon wieder.

B: Kommen die denn auch rum und fragen Sie um Rat?
CK: Ja hin und wieder. Das verstehe ich auch, ich hätte zwar manchmal gerne jemanden gehabt, um zu fragen, aber ich weiß auch nicht, ob ich es getan hätte.

B: Also sind Sie am Ende doch eine Respektsperson, mit all den Vorträgen, mit all den jungen Leuten, den Nachbarn?
CK: Respekt (er schmunzelt), das ist für mich so ein Begriff von früher, vor meinem Lehrer hatte ich Respekt. Also ich freue mich eigentlich, wenn Menschen, egal ob es ein behinderter Mensch* oder nicht behinderter Mensch ist, mich anerkennt für das, was ich gemacht habe, was ich im Leben getan habe. Da freue ich mich wirklich, aber ich fordere das nicht ein, ich bin einer von 8 Milliarden.

*C. Klemmer bezieht sich hier auf den sozialen Bereich des Hofs, der Arbeitsmöglichkeiten, Wohnen und Leben für Menschen mit Behinderung bietet.