B: Liebe Ulli, herzlichen Dank fürs Kommen. Bevor wir starten – du bist jetzt nicht mit diesen Schuhen Fahrrad gefahren, oder? Ehrlich …
U: Doch, natürlich (sie lacht), das ist kein Problem.
Na gut, also für mich wäre es eins. Davon mal abgesehen, ist auch der Rest des Outfits wie aus dem Ei gepellt – was bei manch anderem nach 15 Kilometern auf dem Rad definitiv nicht mehr der Fall wäre. Aber jetzt erst mal einen Cappuccino. Und los geht’s.
B: Magst du kurz von dir erzählen?
U: Ich habe Fotodesign in Essen an der Folkwang Uni studiert. Danach dachte ich, die USA wären das Land meiner Träume. Nach 4 Monaten bin ich mit den letzten Kröten zurückgekommen – das war überhaupt nicht meins. Über eine Stellenanzeige – „Wir suchen für unsere Fotoredaktion jemanden, der organisieren kann und auch Fotos macht“ – kam mein erster Job. Und im Prinzip bin ich dabeigeblieben. Seit 30 Jahren, für verschiedene Magazine. Und zwischendrin auch mal als Freiberuflerin 13 Jahre lang in Großbritannien.
B: Und Zonta?
U: Das ist eine internationale Frauenvereinigung, ursprünglich aus den USA. Eine ganz andere Welt, sehr konservativ, aber auch sehr interessant: Anwältinnen, Ärztinnen, Bankerinnen, Wirtschaftsfrauen… Wir sind ein Serviceverein, ähnlich wie die Rotarier. Im Zonta Club Hamburg Hafen unterstützen wir alleinerziehende Studentinnen, die im letzten Semester sind. Bafög greift nicht mehr, das Sozialamt auch nicht. Und wenn der Vater nicht zahlt oder die Eltern, dann fällst du durchs Raster. Diese Lücke gibt es wirklich, ich habe das gar nicht glauben können. Wir helfen, damit sie ihr Studium abschließen können. Und tatsächlich bin ich gerade auch noch stellvertretende Präsidentin.
foto:
Barbara Wegmann
foto: Barbara Wegmann
B: Und dazu noch passionierte Radfahrerin, das klingt nach gutem Zeitmanagement.
U: Ach, Rad fahren ist eine tolle Möglichkeit, von A nach B zu kommen. Und in der Stadt sowieso die schnellste. Ich „parke“ ja immer direkt vor der Hütte. Fahrrad fahren ist Freiheit in Deutschland – darum bringe ich es auch gerade einer jungen Syrerin bei. Außerdem macht mir das Draußen-Sein in der Natur wahnsinnig Freude. Was ich gerade auf meiner Tour durch den Norden gesehen habe: riesige rote Mohnfelder, Kornblumen zwischen den Weizenähren. Einen Storch mit Blindschleiche im Schnabel, der seine Babys damit füttert. Die Feldlerchen, die dich begleiten. Die Riesenkonzerte von Fröschen und Unken. Ich kann mir gar nicht vorstellen, warum man mit Ohrstöpseln fährt. Ich liebe Musik, aber ich will das um mich herum mit allen Sinnen in dem Moment erleben.
B: Wie viel fährst du dann so am Tag?
U: Ohne Gepäck 100 bis 120 Kilometer. Aber mit Gepäck – und die ersten 2 Tage hatte ich richtig bitteren Gegenwind, Windstärke 5 –, da bin ich nur 50km gefahren. Die letzten Etappen waren dann schon 80 bis 90km lang. Jaaa, da bist du auch froh, wenn du da bist.
Bloß nicht umdrehen.
B: Und das in deinem Beruf? Da bist du ja sicherlich auch ordentlich durchgetaktet.
U: Ich habe ja Urlaub – ich bin ja fest angestellt. Eigentlich wäre ich jetzt in den Senegal geflogen. Nach Dakar zur Kunstbiennale – die natürlich nicht stattfindet. Und somit war die Frage: Was mache ich in diesen zwei Wochen? Die Aussicht, die zwei Wochen zu Hause zu sein, war nicht so prickelnd. Ich kann auch hier jeden Tag Rad fahren, aber ich wollte einfach nicht mehr umdrehen. Dieses Gefühl, nicht umzudrehen, die ganze Zeit immer weiterzufahren, das finde ich wunderbar.
B: Apropos „Zeit“, was fällt dir spontan dazu ein?
U: Das ist Luxus.
Zeit ist Luxus.
B: Um diese Dinge – deine Radtouren – tun zu können?
U: Ja, aber Luxus kann auch ein grauer Novembertag sein. Du schaltest um 15 Uhr den Fernseher ein, Füße hoch. Vielleicht noch so einen schönen Kaffee… (sie lacht) – Luxus. Das kann ich total genießen. Für mich ist das überhaupt nicht langweilig.
B: Tagträumen?
U: Kann ich – aber nicht zu Hause. Da bin ich zu unruhig.
B: Hat sich dein Zeitverständnis durch deine Krankheit verändert?
U: Im Sinne von Lebenszeit, ja. Weil ich fast gestorben wäre. Insofern kann ich sagen: Das ist jetzt alles Bonus, was danach passiert ist. Vielleicht wird man dann auch ein bisschen bewusster. Aber das ist natürlich auch die Altersgruppe:
Mit 30 denkst du null daran,
dass du mal Rentner wirst…
Oh Gott!
(sie lacht schallend) Oder dass du krank wirst oder so etwas. Das kommt natürlich jetzt erst. Also das ist schon ein „Zeit-Momentum“.
B: Ist Zeit Geld?
U: Für mich nicht. Auf gar keinen Fall. Nicht privat. Meine Lebenswirklichkeit ist ja so: Ich habe meine Arbeit – die hat ein gewisses Zeitfenster. Aber ich habe keine Kinder, keinen Lebenspartner. Also kann ich mit dem Rest der Zeit machen, was ich will. Das kann man so oder so finden – aber so ist es nun einmal.
B: Und du wirkst nicht grade unglücklich damit.
U: (grinst) Nein, bin ich auch nicht. Eigentlich bin ich eher wie ein Teenager. Wenn man zum Beispiel entscheidet, och, heute Abend bleibe ich zu Hause. Dann denke ich: Was hast du jetzt verpasst? War das ein Fehler? Weil letztendlich ein Lebensmotto von mir ist:
Man bedauert immer
nur die Dinge, die man
NICHT getan hat.
Schleichen ist schneller.
B: Gilt das auch für deine Reisen?
U: Also Europa in 5 Tagen ist nicht meins. Ich habe viele Fernreisen gemacht, beispielsweise war ich auf Trinidad und Tobago. Niemals wäre ich auf die Idee gekommen, noch nach St. Lucia zu fahren, „wo man doch eh grad hier ist“. Nee. Das sind schon 2 Inseln – da hat man mehr als genug zu sehen.
Deshalb wandere ich auch so gerne: Es ist das Langsame, die Zeit, die die Dinge, die Wege brauchen. Wenn ich auf einen Berg steigen will, dann braucht das 2-3 Tage. Die sind dann schon mal weg – nur für diesen einen Berg. Dafür hab ich ihn aber – zumindest in meinen Augen – intensiv erlebt. Das ist ein anderer Zeitbegriff als bei vielen anderen.
B: Aber darf man das denn noch: langsam sein?
U: Beim Wandern muss man das sogar. Ich hatte mal ein ganz interessantes Erlebnis: Ich bin auf den Kilimandscharo hoch, das ist eine mehrtägige Wanderung. An einem Abend trafen wir neben uns im Zelt ein sehr nettes Paar – so um die 30. Ich war zu der Zeit Mitte 50. Sie sind irgendwann morgens vor uns aufgebrochen, und wir haben sie auf der Route nicht wiedergesehen. Erst zwei Wochen später, zufällig, in einem Museum. Ich hab sie gefragt, wie sie es denn auf dem Gipfel fanden. Sie haben es nicht geschafft, haben abgebrochen. Die waren zu schnell. Der Kilimandscharo ist fast 6000 Meter hoch. Und wenn du zu schnell gehst, mag das für einen Tag gehen. Aber am nächsten bekommst du die Auswirkungen der Höhenkrankheit zu spüren. Oder du kannst einfach nicht mehr.
Ich habe in Nepal dazu mal einen Vortrag gehört, von einem britischen Arzt. Sein entscheidender Satz war: „Leute, die älter sind, haben einen Vorteil, weil sie langsamer sind.“ Sie geben sich mehr Zeit. Sich zu akklimatisieren. Und das ist ein Riesenvorteil.
Mit der Brechstange funktioniert es nicht.
B: Was haben Zeit und Kreativität miteinander zu tun?
U: Oh, viel! Auf meinen Beruf bezogen: Ich bin die einzige von uns 4 Fotoredakteuren, die Bilder sammelt. Das ist Aufwand, zeitintensiv. Natürlich gibt es 80 bis 90 Sachen, die ich vielleicht nicht brauche. Aber auch immer wieder Perlen, die ich mal brauchen KÖNNTE. Sie triggern irgendwas, sodass ich denke: Cool. Coole Idee. Cooles Motiv. Das heb ich auf. Aufheben ist aber Arbeit. Ich mache das natürlich digital. Aber ich drucke es auch aus, schneide es aus, packe es in Themenordner usw. Das ist Arbeit. Das ist Zeit. Aber: Auf der anderen Seite spart es auch Zeit. Wenn irgendein Thema kommt, kucke ich natürlich in den Ordner, und eventuell finde ich was dazu. Oder es ist der Anfang des Fadens, den du dann aufdröselst, der dich dann zur Lösung bringt. Eine Ideengrundlage. Und die braucht Zeit.
Wenn ich also, wie jetzt gerade, die nächste Ausgabe von Soul Sister vorbereite, dann hab ich etwa 15 Themen zu bebildern. Das kann ich nicht abrattern. Ein bis 2, vielleicht 3 Themen – und dann mache ich irgendeine blöde Verwaltungsarbeit. Man ist dann einfach ausgenudelt. Mit der Brechstange geht das nicht.
Aber: Dinge, die Zeit brauchen, sind nicht sehr beliebt. Und dann ist es doch da, das „Zeit ist Geld“. In meinem Arbeitsumfeld sowieso. Mit immer weniger Leuten immer mehr zu machen in immer kürzerer Zeit. Besser wird die Qualität aber nicht dadurch.
B: Bleibt eine letzte, unvermeidliche Frage: dein Lieblingskaffee?
U: Oh, ich bin kein Purist und auch nicht „Barista-tauglich“… Ich mag ihn sehr gern mit Milch, also als Cappuccino. Oder auch einen orientalischen Mocca mit Gewürzen und Zucker. Auf gar keinen Fall aber im Rennen Kaffee aus Papp- oder Plastikbecher trinken, das ist definitiv nicht meins. Gerade bei einem Kaffee wie eurem.
To go ist für mich ein absolutes No-Go.
B: Dem habe ich nun wirklich nichts mehr hinzufügen.
Liebe Ulli, ganz herzlichen Dank für dieses wunderbare Gespräch.